Interview: Hans-Christoph Hobohm über Digitale Bildung

Prof. Hobohm; Foto: Henrik Hagedorn
Veröffentlicht am 11.11.2016

Die Digitalisierung in Gesellschaft und Arbeitswelt schreitet unaufhörlich voran, nur um die Digitale Bildung ist es in Deutschland noch nicht allzu gut bestellt. Mit der Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft, die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka im Juni vorgestellt hat, soll das jetzt anders werden. Mit dem Investitionsprogramm DigitalPakt#D will das BMBF außerdem Digitale Bildung in den Bundesländern fördern. Auch der Nationale IT-Gipfel am 16. und 17. November in Saarbrücken hat dieses Jahr den Schwerpunkt Digitale Bildung. Deshalb wollen wir es genauer wissen: Was passiert in der Bildung in puncto Digitalisierung? Was sind die Ansätze, Herausforderungen und Vorhaben? In unserer Interviewreihe zur Digitalen Bildung in Deutschland haben wir Akteure aus Politik und Wissenschaft befragt. Heute im Interview mit UdL Digital: Hans-Christoph Hobohm, Professor für Bibliothekswissenschaft an der Fachhochschule Potsdam.

Hans-Christoph Hobohm ist Professor für Bibliothekswissenschaft an der Fachhochschule Potsdam und Leiter des dortigen Master-Studiengangs Informationswissenschaften. Seine aktuellen Forschungsgebiete sind Informationsverhaltensforschung bzw. die Rolle der Bibliothek in der urbanen Zivilgesellschaft. Er ist u.a. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Deutschen Instituts für internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main und Leiter des Projekts Akademische Kompetenzen in den Informationsberufen (AKIB). Im Interview mit UdL Digital vertritt Prof. Hobohm u.a. die Ansicht, dass es Politik und Gesellschaft an Informationskompetenz fehlt. Schüler sollten seiner Meinung nach nicht nur die Bedienung, sondern auch die kritische Reflexion der neuen Medien lernen.

Herr Professor Hobohm, die Bundesbildungsministerin hat mit dem DigitalPakt#D ein Programm mit fünf Milliarden Euro zur Investition in die digitale Infrastruktur von Schulen angekündigt. Josef Kraus, der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, möchte das Geld lieber in die Schulbibliotheken stecken. Wie sehen Sie das?

Prof. Hobohm; Foto: Henrik Hagedorn

Als Bibliothekswissenschaftler kann und muss ich Herrn Kraus nur zustimmen. Allerdings fällt meine Antwort dann doch anders als erwartet aus: Der Ort der digitalen Infrastruktur ist die Bibliothek. So wie manche Staaten in den USA die Print-Schulbücher abschaffen, ist die Bibliothek grundsätzlich nicht mehr der Ort der Papier-Bücher, sondern der Ort der Begegnung mit Wissen ganz unterschiedlicher Art. Garanten dafür sind jedoch nicht die Technologien, sondern die Menschen, die die Infrastruktur betreiben und den Zugang dazu bereitstellen. Technik und Infrastruktur bedarf des Menschen nicht nur als Nutzer, sondern auch als Vermittler. Das ist das Grundprinzip von Infrastruktur.

Es müsste also meines Erachtens in mindestens dem gleichen Umfang in Personal investiert werden, zum Beispiel mit der Schaffung von Posten wie dem professeur-documentaliste in Frankreich, der als den Lehrern gleichwertiger Partner das „Centre de Documentation et d’Information“ wie dort die Schulbibliothek genannt werden, betreibt. Hier sammeln sich die Kompetenzen, die notwendig sind, um den digitalen Wandel auch im Bildungswesen zu meistern. Einfach nur Hardware irgendwo hinzupacken genügt nicht, wie eine Reihe von Vorgängerprogrammen wie Schulen ans Netz oder „Internet in Bibliotheken“ gezeigt haben.

Kurz, die Bibliothek ist der Ort der digitalen Kompetenz mit dem Angebot technischer Infrastruktur und mit den persönlichen Vermittlungs- und Orientierungskompetenzen, in die vor allem investiert werden muss.

Was müssen Schüler Ihrer Meinung nach in der Schule lernen, um gut gerüstet für die Digitalisierung zu sein?

Ich glaube kaum, dass die Jugend in Deutschland Unterricht in Medientechnik braucht. Das lässt sich sehr schön an internationalen Vergleichsstudien wie der ICILS-Studie (International Computer and Information Literacy Study, dem PISA Test in Computerkenntnissen) belegen, bei der deutsche Schüler auch ohne jegliche schulische Unterstützung ziemlich gut abschneiden in Computerkompetenz.

Gerade von der Hardware-Seite scheinen deutsche Schüler, wahrscheinlich durch ihr international vergleichsweise reiches Elternhaus, sehr gut gerüstet zu sein. Was die ICILS-Studie aber auch zeigt, ist, dass die pädagogische Begleitung des Wegs in die digitale Welt durch die Lehrer in Deutschland deutlich fehlt: Die Schüler sind also allein gelassen in der neuen Welt, in der sich ihre Eltern natürlich ebenfalls nicht zurecht finden.

Und die Probleme sind nicht die viel diskutierten wie Cybermobbing, Spielesucht oder konkrete Gefahren durch in ihre Welt eindringende pädophile Erwachsene. Es ist vielmehr ein genuin informationswissenschaftliches: Der Mensch neigt zu einer prinzipiellen Fehleinschätzung der ihm zur Verfügung stehenden Informationsquellen. Die Bewertung des Wahrheitsgehalts und der notwendigen Menge an Informationen ist in der digitalen Welt der Informationsflut ganz besonders schwierig geworden. Phänomene wie die Post-Wahrheitsgesellschaft oder die Postdemokratie lassen sich zu großen Teilen genau auf diese informationswissenschaftlich gut belegbaren Probleme menschlichen Informationsverhaltens zurückführen.

Gelernt, geübt und diskutiert werden muss also in der Schule viel mehr kritische Reflexion und der Wandel der Zivilgesellschaft. Die Schule ist schon längst keine Wissensvermittlungsanstalt mehr.

Man gewinnt den Eindruck, dass Deutschland in puncto digitaler Bildung derzeit noch ein Flickenteppich ist. Sind Sie mit der bisherigen Entwicklung zufrieden? Was muss Ihrer Meinung nach noch besser werden?

Zufrieden? Ich bin eher frustriert nach langen Jahren der Beobachtung und des Engagements als Informationswissenschaftler. Nicht nur der Blick in die ICILS-Studie zeigt, dass ein fundamentaler Mentalitätswandel immer notwendiger geworden ist, und eben nicht mehr die Jagd hinter der computertechnischen Beschleunigung unserer Geräte her – von IT Gipfel zu IT Gipfel. Bisher läuft in Deutschland Digitale Bildung vorwiegend als medientechnische Bildung, das heißt Training im Umgang mit der neuesten Hardware und den neuesten Tools, etwa „Wie mache ich Handy-Filme“ oder „Wie werde ich YouTube Star“.

Besser werden muss vor allem das Verständnis darüber, dass das Digitale eine unser Leben bestimmende Infrastruktur ist. Und jeder etwas wirtschaftlich Bewanderte weiß, dass man Infrastrukturen nicht allein der Privatwirtschaft überlassen sollte – vor allem wenn sie so lebenszentral sind wie diese. Und nicht nur die Wirtschaft hängt in starkem Maße von Infrastruktur ab. Insofern geht der nun auf die Schulen gerichtete Blick sehr wohl in die richtige Richtung. Er zeigt aber auch, dass hier eher bundesweite, sachverständige Initiativen notwendig sind, als dass dies der einzelnen Schule überlassen werden kann. Dazu läuft die Digitale Transformation zu schnell und zu radikal.

Auch der vor einiger Zeit eingerichtete nationale Rat für Informationsinfrastruktur ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist ein Gremium, das ähnlich wie der Wissenschaftsrat Empfehlungen aussprechen kann, die den Wandel Deutschlands in die Digitale Welt in diesem Sinn positiv begleiten könnte. Dazu müsste dieser sich aber der gesellschaftlich tiefgehenden Verantwortung, die bei der Jugend beginnt, bewusst werden, was bisher nicht der Fall zu sein scheint.

Medienbildung und digitale Bildung sind inzwischen Bestandteil vieler Lehrpläne. Laut dem aktuellen Bericht des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) gilt das allerdings nicht für die Lehrerbildung und das Lehramtsstudium, wo dieses Thema offenbar deutschlandweit noch immer vernachlässigt wird. Wie kann dieser Missstand behoben werden?

Recht konkret kann ich mir nur vorstellen, dass entsprechend dieses tiefgreifenden Wandels auch nur tiefwirkende Lösungen sinnvoll sind. Computer-Technik ist wie gesagt nur die Oberfläche. Ich stelle mir vor allem neue Berufsbilder vor, die im Sinne der gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen auch speziell auf diese „neuen“ Herausforderungen reagieren können. Hier könnte man z.B. wie in Frankreich einen neuen „Lehrertyp“ schaffen, der auf pädagogisch hohem Niveau das Informations- und Medienzentrum der Schule betreut und gleichzeitig darauf achtet, dass Informationskompetenz im oben beschriebenen Sinn in der Schule verbreitet wird – mit eigenen Fächern oder im Co-Teaching in ganz verschiedenen Fächerkombinationen. Die Deutsche Gesellschaft für Information und Wissen (DGI) fordert die Einführung von Informationskompetenzunterricht an Schulen schon seit langem.

Dies darf aber nicht innerhalb der Mauern der Schule bleiben. Wir wissen mittlerweile, wie viel wichtiger informelles Lernen ist, also im Alltag. Hier fällt den Stadtbibliotheken, die ja oft mit Schulen kooperieren, eine äußerst verantwortungsvolle Aufgabe zu, die sie mit ihren immer geringer werdenden Bordmitteln ja auch schon sehr gut erfüllen. Internationale Beispiele wie die Jugendbibliotheken Biblo Tøyen in Oslo oder „Kirjasto10“ in Helsinki zeigen wie es geht. Es handelt sich um eine Herausforderung der ganzen zivilgesellschaftlichen Gemeinschaft, wie wir sie zum Beispiel mit dem an der FH Potsdam gerade gestarteten Masterstudiengang Urbane Zukunft adressieren. Hier ist auch das Berufsbild des „Community Change Agents“ vorstellbar, der gerade auch in kleineren Städten zwischen Schulen, der Bibliothek und anderen kulturellen Einrichtungen vor Ort vermittelnd, den digitalen Wandel begleitet. Ein Ermöglicher und Moderator des Digitalen und eben keine Maschine.

In welchen Bereichen steht Deutschland bei der digitalen Bildung Ihrer Meinung nach besonders gut da? Und wo gibt es die größten Defizite?

Die Verbreitung neuester Informationstechnik ist in den meisten Familien und bei den Jugendlichen in den letzten Jahren gut voran geschritten, wie ich persönlich bei meinen Studierenden gut beobachten kann. Sorgen mache ich mir in der Tat, dass wir ähnlich wie bei PISA doch die sozial Schwächeren auf der Strecke lassen. Letztlich kann sich eben doch nicht jede Familie Smartphones für jedes Kind leisten. Von daher geht die Initiative des DigitalPakts sicher in die richtige Richtung. Aber wie gesagt: Das Entscheidende an Information und IT ist immer noch der Mensch. Die größte Sorge bereitet mir deshalb, dass wir zunehmend übersehen, dass die Erhöhung der Menge an Bits und Bytes nicht ersetzt, dass Menschen zu ihrem Wohle damit umgehen müssen. Wir stehen insgesamt vielleicht gut da bei der Verbreitung der Medientechnik, aber es fehlt deutlich an Informationskompetenz – auf allen Ebenen!

Am 16. und 17. November findet in Saarbrücken der 10. Nationale IT-Gipfel mit dem Schwerpunkt Digitale Bildung statt. Welches Signal sollte Ihrer Meinung nach vom Gipfel ausgehen?

Selbst große Unternehmen haben mittlerweile verstanden, dass die Organisationskultur, also die Frage der „weichen“ Werte, des sozialen Miteinander und des Wissenskapitals der entscheidende Wettbewerbsfaktor ist. Der IT Gipfel sollte meines Erachtens im Sinne der gesamten Gesellschaft aufhören, nur betriebswirtschaftlich für einzelne Wirtschaftspartner im Hardwarebereich zu denken, sondern eher volkswirtschaftlich für das große Ganze. Das ist langfristig nachhaltiger.

Das heißt, von Saarbrücken muss ein Klimawandel ausgehen, der deutlich macht, dass das Digitale ohne Informationskompetenz in der breiten Bevölkerung – und in der Politik – gefährlich ist.

Schlagworte

Empfehlung der Redaktion