Interview: Open Science – „Etwas mehr Mut ist nötig“

In Bibliotheken ist das Wissen der Welt gespeichert. Es geht darum, es zu Digitalisieren und besser für Forschung und Lehre nutzbar zu machen. CC BY 2.0 by Flickr User Matthias Uhlig / Titel: Bibliothek / Ausschnitt angepasst
Veröffentlicht am 15.02.2017

Der freie Zugang zu wissenschaftlichen Publikation aus öffentlich finanzierten Mittel und eine Anpassung der Urheberrechts an das digitale Zeitalter waren Versprechen der großen Koalition zum Regierungsantritt. Obwohl sich Hochschulen, Bund und Länder einig über die Ziele von Open Science sind, geht der Prozess mühsam voran. Hochschulen verhandeln derzeit unter anderem mit den großen Wissenschaftsverlagen sowie der Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) für eine offene und unbürokratische Nutzung digitaler Wissenschaftswerke.

Vor zwei Wochen wurde ein Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) für ein Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetzes (UrhWissG) bekannt. Das Gesetz soll laut BMJV Vorschriften über die erlaubnisfreie Nutzungen für Bildung und Wissenschaft neu ordnen, konsolidieren und vereinfachen. Im Interview mit UdL Digital erklärt Prof. Rainer Kuhlen die Bedeutung des Gesetzentwurfes, kommentiert den Stand von Open Science in Deutschland und die Herausforderungen.

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In Bibliotheken ist das Wissen der Welt gespeichert. Es geht darum, es zu Digitalisieren und besser für Forschung und Lehre nutzbar zu machen. CC BY 2.0 by Flickr User Matthias Uhlig / Titel: Bibliothek / Ausschnitt angepasst

Rainer Kuhlen ist Professor emeritus für Informationswissenschaft an der Universität Konstanz und Gastprofessor an verschiedenen Universitäten. Er ist Sprecher des Aktionsbündnisses Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft, das sich seit 2004 für Open Science und Open Access an deutschen Hochschulen einsetzt.

Mit dem „Gesetz zur Angleichung des Urheberrechts an die aktuellen Erfordernisse der Wissensgesellschaft“ will das Bundesjustizministerium Forschung, Lehre und Bildung fit für das digitale Zeitalter machen. Was sind Ihrer Meinung nach die zentralen „Erfordernisse der Wissensgesellschaft“?

Das Bundesjustizministerium macht mit seinem Entwurf für ein neues Gesetz „Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz“ einen gewichtigen Schritt in die richtige Richtung. Allein, es ist erst ein Entwurf – unsicher ist, was nachher den Weg durch die parlamentarische Beratung übersteht. Nach meinem Erachten geht der Entwurf ohne Not nicht weit genug, um den Erfordernissen der Wissensgesellschaft in Bildung und Wissenschaft entsprechen zu können. Etwas mehr Mut wäre nötig und möglich gewesen. Das Ziel sollte weiter sein: „In einer digitalisierten und vernetzten Informationsgesellschaft muss der Zugang zur weltweiten Information für jedermann zu jeder Zeit von jedem Ort für Zwecke der Bildung und Wissenschaft sichergestellt werden!“. Das war schon 2004 vom Aktionsbündnis „Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft gefordert worden.

Open Science und Open Access zu fördern, haben die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart. Die Kultusministerkonferenz (KMK) ist ebenfalls dafür und die Hochschulen auch. Ist dieser Gesetzentwurf ein Schritt in diese Richtung?

Ohne Zweifel ist jede politische Verlautbarung zugunsten von Open Science und Open Access eine wichtige Unterstützung. Jedoch fehlen konkrete Realisierungspläne, und bis jetzt sind keine Maßnahmen ersichtlich, wie dieses Versprechen realisiert werden soll. Auch Open Science und Open Access ist nicht zum Nulltarif zu haben. Es fehlen Finanzierungspläne, Vereinbarungen mit den Verlagen, detaillierte Aufklärungsinitiativen in den Hochschulen und Forschungseinrichtungen, eine Verbesserung des Zweitveröffentlichungsrechts (bislang ist grundfinanzierte, also nicht über Drittmittelforschung geförderte Forschung an den Hochschulen ausgeschlossen) und nicht zuletzt Entscheidungen zugunsten einer (über Forschungsförderung) sanften oder (über Gesetz oder Hochschulsatzungen) strikten Mandatierung zugunsten Open Access.

In dem Referentenentwurf sind acht Schranken vorgesehen, die das Urheberrecht für Wissenschaft und Lehre im digitalen Zeitalter flexibel machen sollen. Für Wissenschaft, Bildung, Archive und Bibliotheken soll es unterschiedliche Regelungen geben. Warum befürworten Sie stattdessen eine Generalklausel?

Über eine Generalklausel entfallen die auch jetzt vorgesehenen Nutzungsstriktionen, z.B. 25% eines Werkes (an deren Stellen 10% bzw. dann 75%) dürfen unter speziellen Bedingungen genutzt werden, unangemessene Behinderungen der Nutzung von digitalisierten Werken in Bibliotheken (kein externer Zugriff etc.). Lehrende und Forscher sollen aus ihrer aktuellen Bedarfslage entscheiden, was, in welchem Umfang sie für ihre Arbeit und die Studenten und Studentinnen brauchen. Eine Klausel könnte entsprechend lauten: Zulässig ist die Vervielfältigung und öffentliche Zugänglichmachung eines veröffentlichten Werkes für nicht kommerzielle Zwecke a) wissenschaftlicher Forschung für Mitglieder in formal eindeutig bestimmten Forschungsgruppen oder b) der Lehr- und Lernprozesse von Lehrveranstaltungen an Bildungseinrichtungen.

Kritiker befürchten, dass die großen Wissenschaftsverlage, mit denen die Hochschulen derzeit verhandeln, obsolet werden könnten, wenn Wissenschaftler ihre Arbeiten in Open-Access-Wissenschaftsportalen veröffentlichen. Wäre das tatsächlich negativ und welche Entwicklung erwarten Sie?

Furcht ist das eine, empirische Daten das andere. Bislang ist nicht zu erkennen, dass die Einnahmen – vor allem der großen Verlage – durch Open Access beeinträchtigt werden. Das liegt auch daran, dass so gut wie alle kommerziellen Open-Access-Zeitschriften von öffentlich  finanzierten Einrichtungen finanziert werden. Aber richtig ist, wenn – wie die Frage es nahelegt – Wissenschaftler ihre Arbeiten in Open-Access-Wissenschaftsportalen direkt veröffentlichen, also nicht nur als Zweitpublikation, werden in der Tat Wisssenschaftszeitschriftenverlage überflüssig. Aber das sind die “Nebenkosten“ der umfassenden Digitalisierung auch in Bildung und Wissenschaft. Bislang ist diese Perspektive noch nicht realistisch. Erforderlich wäre (in Ergänzung zur ersten Frage) ein umfängliches Förderprogramm, wodurch flächendeckend Open-Access-Zeitschriften aus der Wissenschaft selber (auch möglich mit Kooperationspartner aus der Wirtschaft) entstehen können.

Verraten Sie uns zum Schluss Ihre Vision für die Zukunft von Open Science an deutschen Hochschulen? Wie wird 2018 geforscht, gelehrt und gelernt?

Wer weiß das schon! Hängt auch stark von den derzeit anstehenden Urheberrechtsreformen in der EU und in Deutschland ab. Unabhängig davon: Forschung wird stärker noch als bisherig dem Paradigma des kollaborativen Arbeitens, stärker noch als bisher auch international, folgen. Dem sollte einhergehen, dass tatsächlich „Open“, „Transparenz“ und „Teilen“ handlungsleitende Werte werden (ohne das funktioniert Kollaboration nicht). Lehre und Lernen werden über eLearning im Prinzip dem ähnlichen Paradigma folgen. Lehrende werden zunehmend selbstbestimmtes Lernen der Studierenden fördern und werden stärker noch als bisher Koordinatoren, Motivatoren und Qualitätssicherer. Für beide Gruppen (Forschung und Bildung) sollte das in der Antwort auf Ihre erste Frage formulierte Ziel eines freien Zugangs zum publizierten Wissen eine Selbstverständlichkeit werden. Aber auch das ist noch reichlich optimistisch.

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